- islamische Philosophie
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arabische Philosophie, der Versuch, die Grundgedanken des Korans von der unumschränkten Allmacht Gottes und der Endlichkeit alles Geschaffenen darzustellen, sie gegen innerislamische und nichtislamische Gegner zu behaupten, sie auch mit dem Gedanken der menschlichen Willensfreiheit in Einklang zu bringen sowie zwischen religiöser Offenbarung und Vernunfterkenntnis zu vermitteln. Diesen Zielen dienen die islamische Theologie (Kalam) und Mystik sowie die Philosophie (Falsafah). Dabei wandten sich die Denker der antiken philosophischen Überlieferung zu, als deren Bewahrer sie sich seit dem frühen Mittelalter verstanden haben. - In der theologischen Richtung der Mutasiliten, der frühesten Form einer islamischen Theologie, bildeten sich bereits eine Ethik des Guten und Bösen, Theorien über Freiheit und Notwendigkeit, Substanz und Akzidenz heraus. Der Begründer der Vermittlungstheorie, al-Aschari (um 900; Aschariten), ging von den Mutasiliten aus; er versöhnte die dialektische Methode mit der Orthodoxie und leugnete den Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung. Die philosophische Entwicklung begründend, setzte unter den Omaijaden und v. a. Abbasiden die planmäßige Aufnahme der hellenistischen Wissenschaft ein (arabische Wissenschaft). Die Grundlage bildete eine umfangreiche Übersetzertätigkeit durch syrische christliche Gelehrte, u. a. aus Gundischapur, sowie durch Sabäer aus Harran. Die Übersetzer Hunain Ibn Ishak al-Ibadi (* 809, ✝ 877), Ishak (✝ 910) und Hubaisch (✝ 890) machten auch die Werke Platons (wohl meist in zusammengefassten Überlieferungen) sowie die Hauptschriften des Aristoteles und die wichtigsten Kommentare in arabischer Sprache zugänglich. Die Araber lernten aber von vornherein einen neuplatonisch ausgelegten Aristoteles kennen (v. a. »Die Theologie des Aristoteles«). So stand die islamische Philosophie von Anfang an im Zeichen eines aristotelisch-neuplatonischen Synkretismus, von dem sie sich nie wieder befreit hat. Hierzu kam noch viel persisches und (durch al-Biruni) indisches Gedankengut. Ferner hängt damit die Neigung der islamischen Philosophie zur Enzyklopädie zusammen: Es werden immer aufs Neue Gesamtsysteme des theoretischen Erkennens entworfen, die jedoch religiöse Grundlagen haben.Philosophie und MystikIm 9. Jahrhundert stand neben dem »Philosophen der Araber«, al-Kindi, dem die Philosophie zum Verständnis und zur Bestätigung der Offenbarung diente, der halb aufklärerisch, halb politisch gerichtete Geheimbund der »Getreuen von Basra« (Ichwan as-Safa). In deren Enzyklopädie der Wissenschaft findet sich als metaphysischer Grundgedanke die Anschauung eines abgestuften emanatistischen Hervorgehens der weltformenden und weltbewegenden geistigen Kräfte sowie der stofflichen Dinge aus der göttlichen Einheit; dem absteigenden Hergang der göttlichen Selbstoffenbarung durch Selbstentäußerung entspricht die Erhebung des individuellen Geistes von der Sinnlichkeit hin zur mystischen Vereinigung mit der Gottheit. Dieses gedankliche Grundgerüst ist für die islamische Philosophie und die philosophisch gegründete Mystik bestimmend geworden.Im 10. Jahrhundert wirkte der bedeutende Arzt Mohammed Ibn Zakarija Rhazes (Ar-Razi), der zugleich eine Lehre vom Hervorgehen der Welt aus fünf Urprinzipien entworfen hat: Gott, Materie, Seele, Raum, Zeit. Alfarabi hob die philosophische Übereinstimmung von Platon und Aristoteles hervor und stellte die Philosophie über die Religion. Eine neuplatonisch orientierte Ethik entwickelte der Universalhistoriker Ibn Miskawaih (✝ 1030). Der erfolgreichste unter den islamischen Philosophen war Ibn Sina (Avicenna), ein Schüler Alfarabis, der die für die Folgezeit maßgebende Form aristotelisch-neuplatonischer Metaphysik geschaffen hat. Entschiedene Gegnerschaft fand er bei dem größten islamischen Theologen, al-Ghasali (11. Jahrhundert), der unter Ablehnung des Gedankens einer außergöttlichen ewigen Materie und einer Emanation der Welt aus Gott eine Einheit zwischen den in seiner Zeit auseinander strebenden Kräften der religiösen Pflichtenlehre, der spekulativen Theologie und der Mystik zu stiften suchte. Die Folge war ein Aufschwung der scholastischen Ontologie und Metaphysik (u. a. vertreten durch den Sunniten Fachr ad-Din ar-Razi, ✝ 1209; den Schiiten Nasir ad-Din ad-Tusi, ✝ 1273). Eine Synthese wissenschaftlich-diskursiver und religiös-mystischer Erkenntnis suchte Shihab ad-Din Jahja al-Suhrawardi (✝ 1191) mit seiner Lehre von der Illumination, die dem Licht besondere Bedeutung zuschreibt.Westislamische PhilosophieIm Unterschied zum Osten erfuhr die islamische Philosophie im äußersten Westen (Spanien) eine eigenständige Entwicklung in enger Verbindung mit der jüdischen Philosophie (Ibn Gabirol). Um 900 wurde hier die neuplatonisch-gnostische Philosophie durch Ibn Masarra (✝ 931) begründet. An Alfarabi lehnte sich Ibn Badjdja (Avempace) an. Dessen Gegner Ibn as-Sid (✝ 1127) suchte griechisches Denken und islamische Dogma miteinander zu verbinden, während Ibn Tufail (Abubacer) die Entwicklungsfähigkeit des individuellen Geistes bis zur Vollendung der Gottesschau und die Gestalt des Philosophen als »Einsamen« dargestellt hat. Ibn Ruschd (Averroes) gewann als der maßgebende Kommentator des Aristoteles für die christliche Scholastik größte Bedeutung und lieferte ihr außerdem mit den Theorien von der Einheit des aktiven Intellekts und der Ewigkeit der Welt die Gegenstände für die großen philosophischen Kontroversen des 13. Jahrhunderts. Das bei den westislamischen Denkern stärker hervortretende Interesse am Verhältnis des einzelnen Menschen zur Gesellschaft fand seinen Ausdruck im Werk des arabischen Geschichtsschreibers Ibn Chaldun (14. Jahrhundert).Neuere ZeitNach der Vertreibung der Araber aus Spanien und der Expansion der Mongolen im Osten konzentrierte sich die islamische Philosophie - bei einer kulturellen Blütezeit im 17. Jahrhundert in Iran mit Mir Damad (✝ 1631) und seinem Schüler Sadr ad-Din al-Shirazi (Mulla Sadra, * 1571, ✝ 1641) - auf die Wiederholung, Zusammenfassung und Kommentierung der vorangegangenen philosophischen Leistungen.In Reaktion auf den europäischen Einfluss seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den islamischen Ländern setzte im 20. Jahrhundert eine ideologisch-politische und eine intensivere wissenschaftliche Rezeption westlichem Gedankenguts ein, so z. B. der Lebensphilosophie H. Bergsons, des Existenzialismus (A. al-Badawi, R. Habaschi), des logischen Positivismus (Z. N. Mahmud) und der Psychoanalyse; es begann die Ausgestaltung einer eigenständigen islamischen Philosophie und philosophische Terminologie. Bei höchst unterschiedlicher Entwicklung in den einzelnen islamischen Ländern finden die Versuche, auf dem Hintergrund der islamischen Tradition eine eigenständige Antwort auf die Fragen moderner Wissenschaft, des nationalen Selbstverständnisses und der Philosophie zu gewinnen, einerseits bereits seit dem 19. Jahrhundert in islamischen Reformbestrebungen (v. a. D. al-Afghani, M. Abduh; in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts z. B. S. D. al-Azm) und andererseits in philosophisch-systematischen, häufig kulturphilosophischen (z. B. M. A. Lahbabi, A. Laroui, H. Sa'b, A. Bouhdiba, S. H. Nasr) Ansätzen Ausdruck.Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:arabische Wissenschaft · Aristotelismus · Averroismus · Islam · islamisches Recht · SufismusS. M. Afnan: Philosophical terminology in Arabic and Persian (Leiden 1964);Islamic countries, in: Handbook of world philosophy, hg. v. J. R. Burr (London 1981);H. Corbin: Histoire de la philosophie islamique (Paris 21986);L'Islam, la philosophie et les sciences, hg. v. der UNESCO (Neuausg. ebd. 1986);C. A. Qadir: Philosophy and science in the Islamic world (New York 1988);Routledge history of world philosophies, Bd. 1: History of Islamic philosophy, 2 Tle., hg. v. S. H. Nasr u. O. Leaman (London 1996).Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:islamische Philosophie: Vollmacht und Grenzen der Vernunftmuslimische Bildungszentren
Universal-Lexikon. 2012.